Einer der Anwendungsfälle von Industrie 4.0 ist die ‚Selbstorganisierende Produktion‘. Schon in den ersten Dokumenten zu Industrie 4.0 findet sich die Vision, dass „intelligente Produkte (…) durch ihre Ad-hoc-Vernetzungsfähigkeit sowie durch Mitführung einer digitalen Produktbeschreibung dazu befähigt (sind), sich eigenständig durch die Produktion zu steuern“ [1]. In diesem Artikel beantworten wir die Fragen, woher diese Idee kommt, stellen den aktuellen Stand der Fertigungsplanung vor und welche Schritte Fertigungsunternehmen gehen können, um vom Nutzen dezentraler und autonomer Produktion zu profitieren.

Effiziente Planung und Steuerung kompletter Produktionsbetriebe oder kleinerer Einheiten wie Werkstätten, Fertigungssegmenten oder -inseln ist seit langem Gegenstand von Forschung, Entwicklung und praktischer Anwendung. Im Kern geht es immer darum,

  • Termine einzuhalten, zu denen Kunden ihre bestellten Waren geliefert bekommen oder gar die Lieferzeiten zu reduzieren. Dabei beeinflussen beispielsweise Rüstzeiten und/oder Bestände an Zwischenprodukten oder Fertigwaren die Durchlaufzeit in Fertigung und Montage.
  • Bauteile oder Endprodukte in der Qualität herzustellen oder zu liefern, die die Kunden erwarten und dabei womöglich den Verschnitt, den Ausschuss oder die Nacharbeit zu verringern und/oder
  • zu wettbewerbsfähigen Herstellkosten zu produzieren und auch die sie beeinflussenden Faktoren, z.B. Verfügbarkeit von Maschinen und Anlagen, immer weiter zu verbessern.

Orientiert an diesen drei Zielen haben sich im Lauf der Zeit für die verschiedenen Arten der Fertigung (Großserien-, Kleinserien- oder Einzelfertigung) passende Organisations- und Steuerungsprinzipien entwickelt.

Die klassische auftragsbezogene Kleinserien- oder Einzelfertigung wird oft nach dem Werkstattprinzip ausgeführt, d.h. dass gleiche Betriebsmittel in Werkstätten zusammengefasst sind, z.B. Werkzeugmaschinen zur Teilfertigung in der Zerspanung, etc. Bei mehrstufigen Produkten kann dadurch ein unübersichtlicher Materialfluss entstehen, da Bauteile wiederholt zwischen den einzelnen Werkstätten hin- und hertransportiert werden. Typisch für eine solche Werkstattfertigung ist die losweise Fertigung und deren Feinplanung mit einer Fertigungsfeinplanung. Dabei ist der zeitliche Ablauf der Fertigung an Lose gebunden; erst wenn das letzte Werkstücke eines Loses bearbeitet ist, werden alle Teile des Loses zur nächsten Verrichtung transportiert. Die Feinplanung erfolgt meist im Nachgang zu einer MRP II-Planung, deren Ergebnisse terminierte Fertigungsaufträge sind. Kurzfristige Reaktionen auf Änderungen in der Fertigung sind in der Feinplanung heute kaum möglich; der Grad der Autonomie ist gering, da die Fertigung den durch einen Feinplanungsalgorithmus automatisch berechneten oder durch einen Disponenten manuell angepassten Plan ausführen muss.

Alternativ zum Prinzip der Werkstattfertigung wurde in den 1990er Jahren die Fertigung in dezentralen Strukturen (Fertigungsinseln, -segmente, -zellen, Fraktale, etc.) eingeführt. Dabei erstellen die Fertigungsmitarbeiter in Gruppenarbeit Produktteile oder Endprodukte möglichst komplett und übernehmen dispositive und steuernde Aufgaben. Fertigungsinseln und die dort eingesetzten Teams stellen jeweils gleiche oder ähnliche Produkte her, die vorher als Teilefamilien festgelegt wurden, z.B. rotationssymmetrische oder prismatische Teile einer bestimmten Größe. Da die Mitarbeiter selbst steuernde Aufgaben übernehmen, ist der Grad der Autonomie bei einer solchen Fertigungsorganisation höher. Denkt man die Idee der Komplettbearbeitung konsequent zu Ende stößt man auf das Problem der ‚nicht teilbaren-Ressourcen‘: beispielsweise lässt sich eine zentrale Lackieranlage oder eine Härterei nicht ohne weiteres auf dezentrale Strukturen aufteilen.

In der Serienfertigung hat sich vielfach ein Linien- oder Fließprinzip durchgesetzt, wie man es aus der Automobilmontage kennt: die Maschinen und Arbeitsgänge sind entsprechend der Bearbeitungsreihenfolge angeordnet; die Arbeitsfolge ist vielfach getaktet, d.h. für Arbeitsvorgänge an einer Station ist eine bestimmte Zeit fixiert. Das Werkstück bewegt sich entweder kontinuierlich oder wird nach Ablauf der Taktzeit in die nächste Bearbeitungsstation transportiert.

Mit dem Aufkommen der ‚Lean Production‘ in den 1990er Jahren setzte sich das Prinzip der Pull-Steuerung vielfach in Fertigungsbetrieben durch. Charakteristisches Kennzeichen dafür ist, dass nur gefertigt wird, wenn ein echter Kundenbedarf vorliegt (Prinzip Supermarkt). Losgrößen werden auf Tageslose heruntergebrochen. Die produzierende Stelle erhält ein Signal, welche Teile in welcher Menge zu welchem Zeitpunkt bei der verbrauchenden Stelle benötigt werden. Dieses Prinzip wird auch als KANBAN-Prinzip bezeichnet.

Verbunden mit der getakteten Fließfertigung und deren Steuerung nach dem Prinzip der Perlenkette, hat die Automobilindustrie das KANBAN-Prinzip in den letzten 20 Jahren perfektioniert. Populär wurde das Konzept der Perlenkette in den 1990er Jahren mit dem Bau des Daimler-Werkes in Rastatt und der Einführung der Mercedes A-Klasse im Jahr 1997. Dabei werden „die einzelnen Kundenaufträge (Perlen) (…) bereits vor Produktionsstart in eine feste, unveränderbare Auftragsreihenfolge (Perlenkette) gebracht und bestimmen damit ab dem Zeitpunkt der Einplanung“ sämtlich Abläufe im Automobilwerk, z.B. die Reihenfolge der zu fertigenden bzw. zu montierenden Karossen, die Anlieferung von Teilen, etc. [Quelle: Weyer, M., 2001]. Zur Planung der Reihenfolge der Fahrzeuge in der Perlenkette, die auch als Sequenz bezeichnet wird, existieren u.a. die Ziele

  • die Arbeitsinhalte an den einzelnen Stationen möglichst gleichmäßig zu verteilen („Austaktung“) und
  • den Teileverbrauch am Band so zu glätten, dass die bereitgestellten Ladungsträger gleichmäßig entleert und damit – nach dem KANBAN-Prinzip – kontinuierlich nachgeliefert werden können.

Je mehr Varianten zu fertigen und zu montieren sind, umso größer wird die Taktzeitspreizung, weil sich die Arbeitsinhalte an einem Arbeitsplatz oder einer Montagestation zwischen den einzelnen Varianten signifikant unterscheiden. Dies führt letztlich dazu, dass die produktiven Zeiten der Mitarbeiter in Fertigung und/oder Montage sinken und damit die Herstellung teurer wird.

Um der Variantenvielfalt zu begegnen existieren darum seit einiger Zeit Arbeiten zur Modularisierung und Flexibilisierung von Fertigungsstrukturen, unter anderem für bislang nach dem o.g. Linien- oder Fließprinzip organisierten Serienfertigungen. Kernidee ist es, statt spezialisierter Produktionseinrichtungen, die teilweise eine eigene Infrastruktur erfordern, z.B. Einschienenhängebahnen, Schubpalettenförderer, eher universell nutzbare Maschinen und Anlagen zu installieren und auf Spezialeinbauten im Hallenboden oder in einer Fördertechnikebene zu verzichten. Die universell nutzbaren Produktionsanlagen werden vielmehr für eine bestimmte Aufgabe konfiguriert und können bei Bedarf schnell für neue oder geänderte Aufgaben umkonfiguriert werden. Dies bedarf natürlich wandlungsfähiger ‚Hardware‘, z.B. Roboter und Manipulatoren, vor allem aber auch dafür geeigneter Steuerungstechnik, Software und Kommunikationstechnik. Dieses Prinzip ist von einzelnen Linien auf ganze Fertigungsstätten übertragbar. Eines der bekanntesten Beispiele ist die mehrfach ausgezeichnete Fabrik von SEW Eurodrive in Graben-Neudorf, in der das komplette Layout und selbst bislang als nicht-teilbar geltende Ressourcen wie Lackieranlagen modularisiert wurden.

Für Serienfertigungen wie in der Automobilindustrie bedeuten diese Ansätze, komplette Bandabschnitte, in denen die Taktzeitspreizung aufgrund der Variantenvielfalt zunimmt, zu modularisieren und den Materialfluss beispielsweise durch fahrerlose Transportsysteme (FTS) zu organisieren – mit der Konsequenz, dass jedes Werkstück einen individuellen Weg durch Montagemodule nimmt, die wiederum von FTSen mit vorkommissionierten Warenkörben an Teilen zeitgerecht versorgt werden. Dieses Szenario erfordert die permanente Lokalisierung und Online-Verfolgung von Werkstücken, FTSen zu deren Transport, Anbauteilen sowie deren Transportmittel. Eine Fördertechnik in mehreren Etagen wie beispielsweise in heutigen Automobilwerken ist dann nicht mehr erforderlich; auch spurgebundene Fahrzeuge werden weitestgehend aus der Fabrik eliminiert. Die heutige (meist outgesourcte) Logistik mit externen Lieferantenlagern, Supermärkten, Routenzügen zur Bandversorgung und Kanbanregalen am Band wandelt sich hin zur Kommissionierung von Teilesätzen für bestimmte Verbauumfänge. Damit kommt allerdings das Steuerungskonzept der Perlenkette an seine Grenzen. Die Steuerung wandelt sich von einer eher zentralen zu einer dezentralen Steuerung, bis hin zu hierarchischen Schwärmen, deren Teilnehmer kollaborativ und (teil-)autonom zusammenarbeiten.

Die dafür erforderliche Kommunikationstechnik und Algorithmik ist aus unserer Sicht heute schon vorhanden: die verfügbaren Werkzeuge ermöglichen das Prinzip der Selbstorganisation durch verteilte Planung. Basis ist ein Modellierungsansatz, der nahtlos von der detaillierten Abbildung physikalischer Prozesse bis hin zu Lieferbeziehungen zwischen Unternehmen skaliert. Für zu modellierende Szenarien nutzt das IOSB einen Algorithmus zur Optimierung sequentieller Entscheidungen. Der Algorithmus verbindet Techniken für die kombinatorische und die kontinuierliche Optimierung: Je nach Szenario kann der Algorithmus kombinatorische Fertigungsfeinplanung (Scheduling) vornehmen oder weltweite Lieferbeziehungen unter Einbezug von Unsicherheiten und Risiko optimieren. Auch verteilte Entscheidungen sind möglich: Jeder teilnehmende Agent hat einen lokalen Handlungsraum, in dem er den Systemzustand beobachten und handelnd eingreifen kann. Die Agenten handeln kooperativ. Sie sind also an der Maximierung der Gesamtwohlfahrt über alle Agenten hinweg interessiert [2].

[1] acatech (Hrsg.): Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 – Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, April 2013
[2] Pfrommer, J., 2019

Foto: IOSB

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