Von Dr.-Ing. Olaf Sauer, Geschäftsfeld Automatisierung / Stellvertreter des Institutsleiters Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB).

„Made in Germany“ steht seit Jahrzehnten für die Qualität deutscher Ingenieurleistungen. Allerdings stehen das produzierende Gewerbe und seine Ingenieure zunehmend im internationalen Wettbewerb – mit dem bekannten Druck auf Kosten bzw. Preis, Zeit und Qualität. Seit 2012 ist ‚Industrie 4.0‘ das strategische Programm in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, um die industrielle Produktion und ihre Ausrüster aus dem Maschinen- und Anlagenbau, der Automatisierungstechnik und der produktionsnahen IT wettbewerbs- und zukunftsfähig zu erhalten.

Wichtiges Kennzeichen von Industrie 4.0 ist die durchgängige Vernetzung und Durchdringung aller Komponenten der Fabrik sowie kompletter Wertschöpfungsketten mit Sensorik, eingebetteten Systemen und Kommunikationstechnik – sog. Cyber-Physische Systeme. Dadurch fallen von der Planung der zu fertigenden Produkte und Produktionsmittel über ihre Herstellung bis zur Nutzung der Produkte große Mengen an Daten an, die meist maschinell erzeugt werden. Diese Daten sind Grundlage für moderne und mächtige Analyse- und Auswerteverfahren, die heute als ‚Künstliche Intelligenz‘ (KI) bezeichnet werden. KI-Verfahren verfügen über „die Fähigkeit, mit neuen Situationen erfolgreich umzugehen, neue Daten oder neue Informationen zu verarbeiten, aus dem verfügbaren Wissen zu schlussfolgern und damit neues Wissen zu generieren (…) oder auch neue Aufgaben zu lösen[1].“ Heute geht man allgemein davon aus, dass KI eine Schlüsseltechnologie ist, mit der Anwender in allen Stufen der Wertschöpfung hohe Verbesserungspotenziale ausschöpfen können.

Aktuelle Studien attestieren Deutschland zwar eine gute Position in der KI-Forschung, den USA aber eine wesentlich höhere Wettbewerbsfähigkeit in den KI-Anwendungen. China investiert massiv in Künstliche Intelligenz – seine Unternehmen werden in wenigen Jahren auf den deutschen Markt für KI-Anwendungen in der Produktion drängen. Darum ist es nur richtig, dass die Bundesregierung in ihrer KI-Strategie das Ziel formuliert, Deutschland und Europa zu einem führenden KI-Standort zu machen[2]. Industrielle Produktion ist dabei eines der wichtigsten Anwendungsfelder. In unseren Demo-Fabriken und anhand konkreter und herausfordernder Anwendungsfälle unserer Kunden aus der industriellen Fertigung arbeiten wir schon heute an innovativen KI-Methoden und –Werkzeugen, die wir Ihnen im folgenden kurz vorstellen.

Daten gewinnen und nutzen

In der Produktion sind Daten immer im Kontext des Produkts oder der Prozesse zu interpretieren – dann sind sie wertvolle Ressourcen, um den Wertschöpfungsprozess zu verbessern oder neue Geschäftsmodelle zu entwickeln[3]. Das heißt auch, dass jeder Anwendungsfall seine spezifischen Daten erfordert. Genau darum ist es so wichtig, die richtigen Daten und qualitativ hochwertige Daten zu analysieren. Erst mit diesen Voraussetzungen lässt sich KI nutzbringend einsetzen.

Nach unserer Erfahrung liegt heute noch eine maßgebliche Hürde zum Einsatz von KI darin, überhaupt an Daten aus Prozessen zu kommen. Das IOSB unterstützt produzierende Unternehmen dabei, KI-relevante Daten aus Ihren Maschinen und Anlagen sowie deren Komponenten zu gewinnen. Entweder stammen die Daten aus den Maschinensteuerungen, aus der existierenden Sensorik der Maschine und/oder aus nachgerüsteten intelligenten Sensoren[4], die wir gemeinsam mit unseren Kunden auswählen und installieren. Wir legen gemeinsam fest, welche Granularität der Daten für eine bestimmte Aufgabe erforderlich ist, wie Daten aus verschiedenen Quellen passgenau zusammengeführt werden können und in welchem Format die Daten übertragen und gespeichert werden. Dabei legen wir Wert darauf, die für den Anwendungsfall richtigen Daten auszuwählen, vorhandene Datensätze zu sortieren und sie für eine nachfolgende Modellbildung aufzubereiten.

Mit unseren seit langem bewährten PLUGandWORK[5]-Lösungsbausteinen machen wir auch Komponenten und Maschinen zu Datenlieferanten, die heute noch nicht vernetzt sind.

Außerdem bieten das IOSB Know-how zu den Themen Datensicherheit und Datenschutz, denn mehr Vernetzung bedeutet höhere Anfälligkeit gegen Cyberangriffe. Heute sind jedoch viele Technologien bereits verfügbar, deren richtiger Einsatz dafür sorgt, dass Sie die Hoheit über Ihre Daten behalten. Entscheidend ist eine passgenaue und sichere IT-Architektur für das Sammeln, Speichern und Auswerten der Daten.

Maschinelles Lernen

In Produktionsprozessen wird Maschinelles Lernen eingesetzt, um ganz allgemein »Wissen« aus »Erfahrung« zu erzeugen – Lernalgorithmen entwickeln aus möglichst repräsentativen Beispieldaten ein komplexes Modell. Dieses Modell kann anschließend auf neue, potenziell unbekannte Daten derselben Art angewendet werden. Immer wenn Prozesse zu kompliziert sind, um sie analytisch zu beschreiben, aber genügend viele Beispieldaten verfügbar sind, z.B. Sensordaten oder Bilder, bietet sich Maschinelles Lernen an[6]. Die Modelle werden mit dem Datenstrom aus dem laufenden Betrieb abgeglichen und erlauben letztlich Vorhersagen oder Empfehlungen und Entscheidungen.

Beispiele, um mit Hilfe Maschinellen Lernens Qualität, Zeit oder Kosten zu verbessern:

  • Anomalien im Verhalten von Maschinen oder Komponenten entdecken, weil die Verfahren zuverlässig Abweichungen vom ‚Normalverhalten‘ eines Prozesses aufdecken und damit letztlich prädiktive Instandhaltung ermöglichen.
  • Bessere Entscheidungen in komplexen Situationen treffen, weil die Modelle die kompletten Zusammenhänge auch über mehrere Fertigungsstufen hinweg erkennen und damit zu Assistenzsystemen ausgebaut werden können.
  • Fertigungs- und Montageprozesse schnell an aktuelle Situationen anpassen, weil klare Korrelationen zwischen Messergebnissen und Prozessparametern eine automatische Regelung ermöglichen.

Weitere Anwendungsgebiete maschinellen Lernens, die wir für unsere Kunden bearbeiten, sind Mensch-Roboter-Kooperation, autonome Intralogistik und Selbstorganisation in der Fertigung.

Das IOSB unterstützt Unternehmen dabei, die richtigen Lern- und Modellierungsalgorithmen auszuwählen, repräsentative Trainingsdaten zu definieren, aufzubereiten und zu speichern, aus den Trainingsdaten sinnvolle Modelle zu erzeugen und dieses dann mit Laufzeitdaten zu vergleichen. Alle diese Aufgaben erfordern geeignete Sensorik, Softwarewerkzeuge und –architekturen. Und: Die Forschung zu Maschinellem Lernen geht weiter: relevant sind beispielsweise Fragen zu maschinellem Lernen mit extrem großen oder sehr kleinen Datenmengen, zur Kombination von maschinellem Lernen mit physikalischem oder Expertenwissen sowie Sicherheit und Transparenz von ML-Modellen.

Edge versus Cloud Computing

Auf den vorangegangenen Abschnitten ist beschrieben, dass sinnvolle Anwendungen Künstlicher Intelligenz qualitativ hochwertige Daten erfordern, auf deren Basis dann Modelle erzeugt werden können. Wo aber werden zukünftig die anfallenden Daten verarbeitet oder die Modelle gelernt?

Aktuell zeichnet sich ab, dass zukünftig „Edge-Rechenzentren“ diese Aufgabe übernehmen. Unter Edge-Computing versteht man, Rechenleistung, Software-Anwendungen, Datenverarbeitung oder Dienste unmittelbar an die logische Randstelle eines Netzwerks zu verlagern, z.B. einer Linie oder einer kompletten Fabrik. Studien prognostizieren, dass Edge-Computing durch die zu erwartende Datenvielfalt, die erforderliche Verarbeitungsgeschwindigkeit und -leistung bis zum Jahr 2025 um rd. 30% jährlich zunimmt. Edge-Rechenzentren, untereinander verbunden zu einer Cloud-Infrastruktur, sind damit skalierbar und bieten auch mittelständischen Unternehmen die Möglichkeiten, Cloud-Technologien zu nutzen, ohne in eine eigene Infrastruktur investieren zu müssen.

Edge-Rechenzentren übernehmen beispielsweise folgende Aufgaben:

  • Sammeln und Interpretieren von Daten aus Sensoren und Maschinensteuerungen,
  • Maschinelles Lernen der Modelle,
  • Vergleiche zwischen Modellen und Laufzeitdaten,
  • Speichern von Messdaten, z.B. Bilddaten aus Qualitätssystemen,
  • Berechnen von Maschinenparametern,
  • andere maschinennahe, aber nicht echtzeitrelevante Funktionen.

Das Potenzial von KI gemeinsam ausschöpfen

Studien zeigen, dass gezielte Kooperationen zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen schneller zu neuen Produkten, Dienstleistungen und Prozessen führen. Innerhalb der Fraunhofer ‚Enterprise Labs‘ arbeiten Mitarbeiter aus Unternehmen tagtäglich mit Fraunhofer Wissenschaftlern und Entwicklern in einem Team zusammen und schaffen so konkrete Produkt- und Prozessinnovationen. Dabei bringen die Mitarbeiter aus der Praxis spezifisches Produkt- und Prozess-Know-how sowie die Kenntnisse über die Geschäftsprozesse ihres Marktes ein. Sie erhalten einen Arbeitsplatz am IOSB, können aber definierte Projektaufgaben auch an ihrem ‚Heim-Arbeitsplatz‘ im Unternehmen bearbeiten. So wirken sie gleichzeitig als Know-how-Multiplikatoren an ihrem Stammsitz. Die IOSB-Wissenschaftler verfügen über umfangreiches Technologie-Know-how und Anwendungswissen aus verschiedenen Branchen. So entstehen in der Kooperation zielgerichtete Ergebnisse bis hin zu gemeinsam entwickelten Business Cases mit messbarem Kundennutzen. Durch unsere Nähe zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) binden wir auch Masterstudenten oder Doktoranden in die Aufgaben ein.

Eine ideale Umgebung für produktionsnahe KI-Projekte sind die Forschungsfabriken und Labore des IOSB. Sie sind nach dem neuesten Stand der Technik mit industriellen Komponenten von der Sensorik bis zur Cloudinfrastruktur ausgerüstet, so dass spätere Anwendungen und Produkte realitätsnah erprobt und verbessert werden können.

Wenn Unternehmen darüber hinaus an eigenen Maschinen und Anlagen arbeiten wollen, bieten wir ab dem Jahr 2020 ein weiteres KI-bezogenes Highlight: die Karlsruher Forschungsfabrik. Auf rd. 4.500 m² werden wir gemeinsam mit Industriepartnern Fertigungsprozesse instrumentieren, Daten auswerten und neue KI-bezogene Lösungen erarbeiten, z.B. um neue Fertigungs- und Montageprozesse schnell zu Serienreife zu bringen. „Unreife Prozesse“ bezeichnen Fertigungsprozesse, die noch nicht vollständig verstanden und beherrscht werden, weil sie entweder neu sind, neue Werkstoffe verarbeiten oder weil man nicht genau versteht, welche Prozessparameter eigentlich für die Produktqualität verantwortlich sind. In der Karlsruher Forschungsfabrik erforschen wir gemeinsam mit Ihnen, an welchen Schrauben im Prozess man ‚drehen‘ muss, damit die Qualität der Produkte gleichmäßig hoch ist und bleibt. Basierend auf Verfahren Maschinellen Lernens und der Mess- und Regelungstechnik sollen die Maschinen und Anlagen ihre Prozessparameter letztlich selbst einstellen, z.B. wenn die Qualität der Produkte sich schleichend verschlechtert oder sich die Umgebungsbedingungen ändern.

[1] PaiCE (Hrsg.): Studie Potenziale der Künstlichen Intelligenz im produzierenden Gewerbe in Deutschland
[2] Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, siehe www.ki-strategie-deutschland.de
[3] World Manufacturing Forum: The 2018 World Manufacturing Forum Report – Recommendations for the Future of Manufacturing.
[4] Werthschützky, R. (Hrsg.): Sensor Technologien 2022. AMA Verband für Sensorik und Messtechnik e.V., 2018
[5] siehe www.plugandwork.fraunhofer.de
[6] Fraunhofer Gesellschaft (Hrsg.): Maschinelles Lernen – eine Analyse zu Kompetenzen, Forschung und Anwendung. München, 2018

Bild: © IOSB