OEM&Lieferant Ausgabe 2/2021

23 entwickeln. OPC UA und seine Companion Spezifikationen für die unterschiedlichen Branchen des Maschinenbaus ist ein gro- ßer Schritt in Richtung semantischer Inter- operabilität innerhalb von Fabriken und Produktionsnetzwerken. Neue Technologien wie die Gestenerken- nung und -steuerung ermöglichen neue intuitive Bedienkonzepte von Maschinen und verketteten Anlagen. Die bisherige Interaktion mit Maus und Tastatur kann ganz oder teilweise abgelöst werden, so dass auch Anwender ohne Computerkenntnisse intuitiv mit Maschinen zusammenarbeiten können. Auch in der Fabrik bieten die neuen Interaktionstechnologien große Potentiale: Ein Beispiel ist die Rückmeldeprozedur, die Produktionsmitarbeiter für Ergebnisse aus der Fertigung ausführen: statt ans entfernt stehende BDE- oder QS-Terminal zu gehen und dort Rückmeldungen einzugeben, kann die Rückmeldung per Geste und deren Er- kennung per Kamera direkt am Arbeitsplatz oder am Werkstück erfolgen. Das spart Zeit und reduziert Fehler. Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinel- les Lernen (ML) werden heute eingesetzt, um unerwartetes Verhalten von Maschinen oder Komponenten in der Produktion im Voraus zu erkennen und so Produktionsstill- stände zu vermeiden. Zukünftig aber gibt es weitere Use Cases: Anwender wollen bessere Entscheidungen in komplexen Situ- ationen treffen, weil die gelernten Modelle die kompletten Zusammenhänge auch über mehrere Fertigungsstufen hinweg erkennen und damit zu Assistenzsystemen ausgebaut werden können. Sie wollen Fertigungs- und Montageprozesse schnell an aktuelle Situ- ationen anpassen, weil klare Korrelationen zwischen Messergebnissen und Prozess- parametern eine automatische Regelung ermöglichen. Weitere Anwendungsgebiete maschinel- len Lernens sind Mensch-Roboter-Ko- operation, autonome Intralogistik und Selbstorganisation in der Fertigung. Und die Forschung zu Maschinellem Lernen geht weiter: relevant sind beispielsweise Fragen zu Maschinellem Lernen mit extrem großen oder sehr kleinen Datenmengen, zur Kombination von Maschinellem Lernen mit physikalischem oder Expertenwissen sowie Sicherheit und Transparenz von ML-Model- len. Um den KI-Einsatz in der Produktion weiter zu entwickeln, haben Fraunhofer und das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die Karlsruher Forschungsfabrik 1) mit rd. 5.000 m² modernster Infrastruktur einge- richtet. Unter dem Begriff „Digitaler Zwilling“ ver- stehen wir heute ein Konzept, mit dem Pro- dukte sowie Maschinen und ihre Komponen- ten mit Hilfe digitaler Werkzeuge modelliert werden, und zwar einschließlich sämtlicher Geometrie-, Kinematik- und Logikdaten. Ein Digitaler Zwilling ist das Abbild des phy- sischen ‘Assets‘ in der realen Fabrik und erlaubt dessen Simulation, Steuerung und Verbesserung. Industrie 4.0-Arbeitsgruppen diskutieren Digitale Zwillinge in Verbindung mit der sog. Verwaltungsschale und Indus- trie 4.0-Komponenten. In den kommenden Jahren werden Digitale Zwillinge in For- schung und Entwicklung weiter ausgestaltet; schon heute ist klar, dass es sich dabei nicht um ein monolithisches Datenmodell han- delt, sondern um unterschiedliche Aspekte digitaler Repräsentationen, Funktionalitäten, Modelle und Schnittstellen. Wir unterstützen Maschinen- und Anlagenhersteller beispiels- weise dabei, durchgängige Datenhaltung über Semantiken für Digitale Zwillinge zu de- finieren bis hin zu spezifischen Werkzeugen, mit denen deren Aspekte simuliert und pro- gnostiziert werden können. Bei den F&E-Arbeiten zu unserem Smart- FactoryWeb 2) (SFW), einer industriellen Plattform für Smarte Fabriken, das gleich- zeitig offizielles Testbed des Industrial Inter- net Consortiums (IIC) ist, sind die Entwickler des Fraunhofer IOSB zu dem Schluss ge- kommen, dass diese Plattformen tatsäch- lich disruptive Wirkungen für die Fertigungs- industrie haben können. SFW zielt darauf, Verbesserungen in der Wertschöpfung durch flexiblen Ausgleich von Kapazitäten zwischen den Smart Factories der Platt- form zu erzielen. Dazu registrieren sich die Fabriken im SFW-Portal und eröffnen somit Kunden eine Suche nach geeigneten Produktionskapazitäten. Inzwischen ver- fügt SFW auch über Funktionen zur Ver- waltung von Lieferketten und –netzwerken. Da Produktionsunternehmen meist auf Zulieferer angewiesen und über mehrere Standorte verteilt sind, ist diese Funktionali- tät ein wichtiger Schritt, umVerbesserungen und Verhandlungen über Unternehmens- grenzen hinweg zu erreichen. Inzwischen haben sich am Markt diverse Manufactu- ring-as-a-Service- (MaaS-)Plattformen eta- bliert, die die Herstellung von Teilen – aktuell meist noch NC-Bearbeitung, 3D-Druck oder Herstellung von Blechteilen – als Dienst- leistung anbieten. Fertigungsunternehmen werden Teil solcher Plattform, indem sie ihre Ressourcen und damit die Fertigungs- kapazitäten zur Verfügung stellen; die Plattform übernimmt alle administrativen Tätigkeiten: auf Basis der vom Kunden bereitgestellten 3D-Daten kalkuliert die Software automatisch den Preis sowie den Liefertermin und vergibt den Fertigungsauf- trag an eine seiner angeschlossenen Fab- riken. Der Endkunde hat somit keinen Kon- takt mehr mit dem Fertigungsunternehmen, sondern lediglich mit der Plattform. Dieses Szenario ist aus Sicht des IOSB tatsächlich bedrohlich für kleine und mittelständische deutsche Fertigungsunternehmen, denn damit werden sie abhängig von der jewei- ligen Plattform. Der direkte Kundenkontakt existiert für sie nicht mehr; der Wettbewerb findet aufgrund der maximalen Transparenz fast ausschließlich über den Preis statt. Ak- tuell gilt dies zunächst für Commodities, also für Standard-Teile, aber es ist denkbar, dass auch weitere Fertigungsverfahren auf den Plattformen gehandelt werden. Aus Sicht des IOSB ist es jedoch entscheidend, dass Daten aus Produktionsanlagen und Fabriken nur in spezifischen Anwendungs- fällen an Dritte weitergegeben werden. Die Nutzungskontrolle über die Daten muss beim Eigentümer der Geometrien bzw. beim jeweiligen Fertigungsunternehmen erhalten bleiben. Darum unterstützt das IOSB die Be- strebungen der International Data Spaces Association (IDSA), die mit dem Industrial Data Space (IDS) ein sicheres und souverä- nes Netzwerk zumDatenaustausch aufbaut. Der Software- undAutomatisierungsanteil einer Maschine steigt kontinuierlich – der wertmäßige Anteil an Mechanik nimmt ab. Fraunhofer berät Maschinen- und Anlagen- bauer beim Aufbau zukunftsorientierter IT- Architekturen, sowie bei der Auswahl ge- eigneter IT-Technologien, -Werkzeuge und -Funktionalitäten. Aus unserer Erfahrung ist dies allein aber nicht ausreichend – wie die Entwicklung einer Maschine erfordert die Softwareentwicklung einen ingenieur- mäßigen Entwicklungsprozess mit definier- ten Phasen, Freigabemechanismen, Projekt- management und Dokumentation. Darum unterstützen wir Maschinen- und Anlagen- hersteller dabei, die Organisation einer pro- fessionellen Softwareentwicklung speziell auf ihr Unternehmen zu zuschneiden. Der Maschinenbau muss sich neu erfinden! Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen steht die Digitalisierung in der Produktion immer noch am Anfang. Zukünftig wird alles in der Fabrik mit Hilfe spontan vernetzbarer und echtzeitfähiger Software funktionie- ren – mit gravierenden Auswirkungen auf die Struktur der Wertschöpfung im Ma- schinen- und Anlagenbau. Ziel aller unserer Anstrengungen ist es, den Maschinen- und Anlagenbau in Deutschland zu erhalten und zu stärken. Deutschland braucht eine star- ke industrielle Basis für künftige turbulente Zeiten. 1) siehe www.forschungsfabrik-ka.de, letz ter Aufruf am 07.07.2021 2) siehe www.smartfactoryweb.de, letz ter Aufruf am 07.07.2021 Karlsruher Forschungsfabrik https://t1p.de/vjmx Digitaler Zwilling https://t1p.de/gre5 Teilen

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