OEM & Lieferant Ausgabe 1/2022

3 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Krieg in Europa, direkt vor unserer Haustür – dies lag weit außerhalb unserer Vorstellungskraft bis wir amMorgen des 24. Februar 2022 in einer neuen, grausamen Realität aufwachten. Der Angriff Russlands auf die Ukraine markiert einen Wendepunkt in der europäischen Nachkriegsgeschichte und zwingt uns, unsere bisherigen sicherheits-, industrie- und energiepolitischen Positionen zu überdenken und neu zu definieren. Welche Konsequenzen dieser Krieg final für die Automobil- und Zulieferindustrie haben wird, zeichnet sich in gewissen Tendenzen schon jetzt ab und wird sich in naher Zukunft weiter manifestieren. Sicher ist jedoch, dass wir die für unseren Handel und unsere Industrie bedeutsamen Eckpunkte der Energie- und Rohstoffversorgung neu definieren müssen, dass sich der Markt Russland und damit verbundenen Märkte neu ordnen werden und dass Lieferketten und industrielle Produktionsstrukturen von Grund auf neu gedacht werden müssen. Am gravierendsten werden die energiepolitischen Folgen sein angesichts der großen Abhängigkeit Deutschlands und Teilen Europas von russischen Gas-, Kohle- und Erdöllieferungen. Sie zu substituieren und langfristige Lösungen zu schaffen, die Abhängigkeitsverhältnisse künftig vermeiden, ist eine Herausforderung, die wir mit unseren europäischen Partnern, aber auch auf nationaler Ebene werden meistern müssen, wobei gerade unter Sicherheitsaspekten ein Schwerpunkt bei den regenerativen Energien liegen wird. Kurz- und mittelfristig werden wir mit einem erheblichen Preisdruck bei Kraftstoffen – vergleichbar der Situation der Ölkrise der 70er Jahre – zu rechnen haben, was wahrscheinlich zu einer entsprechenden Kaufzurückhaltung bei Verbrenner-Fahrzeugen führen könnte. Profitieren könnte hiervon der Markt batterie-elektrischer Fahrzeuge, da sie noch am ehesten der Versorgung mit über regenerative Energiequellen gewonnenem Strom zugänglich sind. Kurzfristig wird sich der Lieferausfall von bedeutsamen Rohstoffen wie Palladium, Neon oder Nickel auswirken. Jedoch ist bei keinem dieser Rohstoffe Russland Exklusivlieferant, so dass auch hier mittelfristige Ersatzlösungen denkbar sind. Der russische und ukrainische Markt wird kurzfristig komplett wegbrechen und deren Erholung hängt wesentlich von den politischen Rahmenbedingungen ab. Die deutschen OEM`s haben in 2021 circa 40.000 Fahrzeuge sowohl in die Ukraine als auch nach Russland exportiert. Das sind 1,7 Prozent aller aus Deutschland exportierter PKW. Der Marktanteil deutscher Hersteller lag 2021 in Russland mit 170.000 dort produzierten PKW bei knapp 20 Prozent. Auch wenn Märkten nachgesagt wird, eher über ein kurzes Gedächtnis zu verfügen, dürfte die Erholung des russischen Marktes angesichts massiver wirtschaftlicher Sanktionen des Westens insbesondere im Bereich des Zahlungsverkehrs und bei Finanzierungsmöglichkeiten doch in weiter Ferne liegen. Eine tiefgreifende und sicherlich nachhaltige Wirkung wird sich bei der Gestaltung von Lieferketten und globalen Produktionsnetzwerken zeigen. Galt in der Vergangenheit der Grundsatz, Produktions- und Liefernetzwerke global in erster Linie nach den Gesichtspunkten Marktnähe und Kosten aufzubauen, wird von nun an der Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit in Krisenzeiten deutlich in den Vordergrund rücken. Schon die Corona-Krise hat uns die Anfälligkeit dieser globalen Netzwerke vor Augen geführt, auch wenn man die Ursachen vordergründig in der zeitlich befristeten und damit relativ schnell wiederherstellbaren Instabilität logistischer Lieferketten sah. Der UkraineKrieg führt uns drastisch vor Augen, wie dauerhaft instabil diese Netzwerke sein können. Die Produktionsplaner der OEM`s werden sich zunehmend von exklusiven Entwicklungs- und Lieferpartnerschaften mit einzelnen Zulieferunternehmen verabschieden. An die Stelle von solchen single-sourcing-Lösungen werden zumindest double- oder sogar multi-sourcing Lösungen treten, die unterschiedlichsten Sicherheits-Szenarien Rechnung tragen müssen. Diese Umstellungen werden nicht ohne Wirkung auf der Kostenseite bleiben. Sie stellen aber eine neue Chance für die deutsche Zulieferindustrie dar, die sich mit ihrer enormen Anpassungs- und Innovationsfähigkeit schon in der Vergangenheit als äußerst krisenresistent bewiesen hat. Die Beiträge dieser Ausgabe von OEM&Lieferant spiegeln gerade diese Fähigkeit unserer Industrie und deren Dienstleiser – auch wenn sie weitgehend vor Ausbruch der aktuellen Krise verfasst worden sind. Aber sie machen auch zuversichtlich, dass wir mit unseren personellen und technischen Kapazitäten gut für eine positive Neuausrichtung unserer Industrie unter geänderten politischen Rahmenbedingungen gerüstet sind. Wir danken ganz herzlich allen Autorinnen und Autoren, Interviewpartnerinnen und – partnern sowie allen Anzeigenkundinnen und -kunden für die hervorragende Zusammenarbeit. Ihre Redaktion Dr. Rudolf Müller und Elisabeth Klock OEM&Lieferant www.oemundlieferant.de Dr. Rudolf Müller Elisabeth Klock

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